16/07/2024 0 Kommentare
Achtsamkeit
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Achtsamkeit
Für eine Kultur der Achtsamkeit
Als Anfang des Jahres die Evangelische Kirche in Deutschland eine Studie veröffentlichte, war das Entsetzen groß. Bislang waren sexualisierte Ge walt und Missbrauch fast nur in der katholischen Kirche thematisiert wor den. Doch nun wurde schlagartig klar: Auch in der Evangelischen Kirche und Diakonie waren seit 1946 über 9000 Schutzbefohlene missbraucht worden. Und ich muss gestehen, bis zur Veröffentlichung der Studie hielt auch ich dieses Thema für ein eher katholisches Problem.
Wenn ich nun ab und an auf meine berufliche Tätigkeit angesprochen werde und ich antworte, dass ich kirchlicher Mitarbeiter bin, ernte ich interessierte, zuweilen aber auch skeptische Blicke. „Ach, zu diesem Verein gehörst Du“, heißt es dann manchmal. Ich sei also einer „von denen“, denen nicht zu trauen ist. Manchmal kann ich mir Kirchendistanziertheit bis hin zur Kirchenfeindlichkeit nicht erklären, dann aber, mit Blick auf gerade dieses Thema, eben wieder doch. Peinlich berührt erwische ich mich dann dabei, meinem Gegenüber in bester Absicht Relationen aufzuzeigen: Dass die beiden großen Kirchen zusammen immer noch an die 40 Millionen Mitglieder haben. Und dass man allein aufgrund dieser beträchtlichen Zahl nicht davon ausgehen kann, dass das alles nur anständige Menschen seien. Ob das etwa eine Entschuldigung für das sein soll, was die Medien berichten, werde ich dann berechtigterweise zurückgefragt. „Nein“, antworte ich, „allein, was besagte Studie offenlegt, ist durch nichts zu entschuldigen. Ich möchte lediglich darauf aufmerksam, dass nicht alle Menschen, die wie ich kirchlich aktiv sind, in einen Topf geworfen werden können. Sie sind in ihrer Gesamtheit ein Querschnitt der Gesellschaft mit allem Guten wie Schlechten.“ „Und Du gehörst zu den Guten?“ lautet dann die Gegenfrage. „Natürlich“, antworte ich. „Dann sag mir nur eines“, entgegnet mein Gegenüber, „woran soll ich denn erkennen, dass Du einer von den Guten bist und nicht einer der Schlechten unter den 40 Millionen“? Nun gut: Punkt für meinen Gesprächspartner. Denn ja, woran soll er es erkennen bei all der zur schrecklichen Gewohnheit gewordenen Vertuschung? Welchen Grund hat er mir zu glauben, dass in meiner Gemeinde, so wie ich es doch hoffe, die Welt noch in Ordnung ist? Und mehr noch, woher nehme ich eigentlich selber diese feste Überzeugung, dass das Übel immer woanders stattfindet, aber nicht im nächsten Umfeld?
Erstaunt hat mich, dass infolge dieser Enthüllungen Neu-Buckower Gemeindeglieder selber von Gewalt und Missbrauch in ihrer Kindheit zu berichten wussten. Wie dicht das doch alles dran ist, dachte ich in diesem Moment: Es passiert nicht nur in den Medien. Vielleicht geschieht ja etwas Übergriffiges gerade jetzt in diesem Moment hinter der nächsten Mauer. Was kann ich also tun, statt mit dem Finger auf die bösen anderen unter den 40 Millionen zu zeigen? Vielleicht gar nicht den Finger, sondern die Augen benutzen: achtsam sein, schauen, was passiert; direkt in meiner Umgebung, in meinem Umfeld. Bei mir selber anfangen und dafür sorgen, dass Menschen sich dort sicher fühlen, wo ich selber wirke. Vertrauen schaffen von innen heraus, statt lamentierend zu bedauern, dass man nicht allen trauen kann.
Wie erfreulicher- und dringlicherweise viele andere hat sich auch unsere Gemeinde auf den Weg gemacht und darüber nachgedacht, wie sie selber Übergriffigkeiten vorbeugen kann. Und hier ein erster Schritt: Denn Ergebnis dieser Überlegungen ist insbesondere die Verschriftlichung eines Verhaltenskodexes, der fortan in regelmäßigen Abständen in allen Formaten und Gruppen der gemeindlichen Arbeit aufs Neue in Erinnerung gerufen wie ins Gespräch gebracht wird. Schon im Juli 2022 hatte Annette Helwig eine monatlich tagende Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, um eine auf unsere Gemeinde bezogene Risikoanalyse zu erarbeiten. Diese Arbeit war äußerst bereichernd, wurden doch immer wieder bislang unreflektierte Gewohnheiten des gemeindlichen Alltags in den Blick genommen. Die erstellte Risikoanalyse wurde schließlich zur Basis für den Beitritt zum kreiskirchlichen Präventions- und Schutzkonzept „Für eine Kultur der Achtsamkeit“.
Annette Helwig ist die vom GKR in dieser Sache ehrenamtlich beauftragte Kontaktperson für die Gemeinde und hat 2022/23 eine Grundlagenschulung zur Prävention sexualisierter Gewalt in der EKBO sowie die Multiplikatoren-Schulung „hinschauen, helfen, handeln“ der EKD absolviert. Ansprechbare Präventionsbeauftragte des Kirchenkreises Neukölln ist Petra Reh. Der Beschluss des Gemeindekirchenrates, dem kirchlichen Schutzkonzept beitreten zu wollen, ist in der Märzsitzung dieses Jahres erfolgt. Wir lösen damit vielleicht nicht alle Probleme, die Menschen mit und wegen unserer Kirche haben, gehen aber schließlich bzw. endlich Schritte, die denkbar schlimmsten zu verhindern. Denn eine Kirchengemeinde muss ein Ort sein, in dem man Halt und Sicherheit findet, und keiner, von dem man schreiend wegläuft.
Jens Seipolt
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